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Vorwort zum Buch: „Selbstheilungskräfte“ von Josef Ulrich

Heilung ist immer Geschenk und Gnade, sie ist nicht machbar, nicht erzwingbar, jedoch in ihrem Entwicklungsweg unterstützbar. Wie bereits berichtet, erkranken in Deutschland jährlich etwa 500.000 Menschen neu an Krebs, und etwa zwei Drittel der erkrankten Frauen und über 50 % der erkrankten Männer überleben. Es gibt Kräfte in uns, die ein Weiterleben ermöglichen.

1997 in Heidelberg und 2017 in Hamburg fand jeweils ein Kongress Salutogenese bei Krebs statt. Die Aufmerksamkeit für unerwartet gute Krankheitsverläufe sowie für nicht möglich gehaltene Heilungen hat sich in den letzten zwanzig Jahren vergrößert. Wo 1997 oftmals noch Abwertung waltete und man belächelt wurde, sind heute Achtung, Respekt und sogar Interesse gewachsen

Die Bereitschaft, aus den existierenden Heilungen zu lernen und neue Erkenntnisse über die Fähigkeit des Immunsystems zu gewinnen, hat zu neuen Ansätzen und Heilmittelentwicklungen in der Krebstherapie geführt. Die Fähigkeit des Körpers, Heilungsprozesse zu initiieren, auch bei Krebs, wird mehr und mehr wahrgenommen.

Veränderungen der Lebensweise und des Verhaltens hin zur gesunden Leibbildung kommen aus einer Entwicklung des Bewusstseins. Die Anerkennung der gewordenen Umstände und die Anerkennung, dass alles Gewordene aus einem Werden, einem Entstehungsprozess gebildet ist, hilft uns weiter. Spalten wir das Werden des Lebens ab und konzentrieren wir uns explizit auf das Gewordene, ohne das dahinter stehende Werden mit erspüren zu wollen, werden nachhaltige Heilungsprozesse sehr schwer hervorgebracht werden können. Der Mensch ist mehr als ein biochemischer Prozess!

Manch einer mag sich schon gedacht haben: »Mein Verhalten hat meine Haltung hervorgebracht«, und »Mein Verhalten wiederum gründet sich auf viele Erfahrungen meines Lebensweges. Wie kann ich mich für neue Erfahrungen öffnen?«

Schmerzen oder der persönliche Supergau der Lebenskrise, ein Zusammenbruch oder eine lebensbedrohliche Krankheit können mich für neue Erfahrungen öffnen. Die Krise vermag mich zu einem Stopp, zu dem Ende des gewohnten Verhaltens zu führen. Die konstruierte Wirklichkeit oder mein Beschönigen der Umstände, mein Zurechtlegen und Abspalten sind dann an einer Grenze angelangt, an der ich sie nicht mehr aufrechterhalten kann. Die Wirklichkeit drängt sich mir mit einer solchen Unausweichlichkeit auf, dass sie plötzlich wahrgenommen wird. Meine konzentrierte Fokussierung auf einen Bereich ist nicht mehr möglich.

Plötzlich wird mir eindeutig, ohne jeden Zweifel klar: Das bisherige Verhalten, meine Gewohnheiten, meine Sichtweisen, meine Muster haben keine gesunde Entwicklung hervorgebracht! Ein Umdenken, eine andere innere Haltung will erworben werden. 

Ein neues Bewusstsein erwacht. Der Mut zu Neuem kann aus der absoluten Gewissheit, dass ich mit einem »Weiter so!« Selbstsabotage betreibe und mein Ende vor Augen sehe, entfacht werden. Eine Lichtkraft in mir kann die »Schein-« und »Täuschungsprogramme« auflösen.

Nachdem wir die Situation wahrgenommen, erkannt und anerkannt haben, steht eine Entscheidung an: für oder gegen das Leben. Und dann steht an, dass wir um Hilfe bitten, uns für Hilfe öffnen und loslassen von Haltungen wie: »Ich muss alles alleine schaffen, es gibt nur einen Weg und das ist der, den ich mir zurechtgelegt habe.« 

Die Erkenntnis, bewusst Mitgestalter auf dem Weg der Heilung sein zu können, Zusammenhänge in den Lebensentwicklungen zu verstehen und in den daraus sich ergebenden inneren und äußeren Veränderungen Sinnhaftigkeit zu entdecken, all dies können wir ohne Begegnungen, ohne Entwicklungswege nur schwer erlangen und lebendig halten. Es gibt Lebensumstände, die uns auf diesem Weg unterstützen. 

Eine über das Symptommanagement hinaus auf Heilungsprozesse hin orientierte Medizin wird Umstände kreieren, in der der Mensch keine Ware, kein Objekt der Wirtschaft mehr ist, die letztlich chronisch pathologisierend wirken kann. Sie wird dem mit einer Krankheit herausgeforderten Menschen ein Umfeld anbieten, in dem er sich selbst wieder in liebevoller Haltung zu begegnen lernt, sich mit Wärme erzeugender Begeisterung erfüllt, sich neu mit seinem Leib verbinden kann. 

Eine Medizin, die dem Menschen, seinem Wesen und seiner Würde Respekt zollt, die ihn als eine Individualität anerkennt und nachhaltige Heilung anstrebt, benötigt ein besonderes Ambiente, geschützte Erfahrungs-, Erkenntnis- und Entwicklungsräume für die betroffenen Menschen, »Ateliers der Liebe«, wo sie sich sicher und geborgen fühlen und wo sie »sie selbst« sein dürfen. Es sind ebenso Räume der Begegnung in der Gemeinschaft, der Verbundenheit, des einander Stützens, Begleitens und Förderns auf dem individuellen Weg der Heilung.

Haben wir diese Räume zur Verfügung, kann sich etwas Wunderbares ereignen. Mitfühlende Verbundenheit unter den Betroffenen, gegenseitige Wertschätzung in allem Eigensein und im Umgang mit der Herausforderung Krankheit können das Heilungspotenzial der Gemeinschaft erblühen lassen. Sie teilen miteinander ihre Erfahrung und die Gewissheit, aktive Mitgestalter und nicht mehr ohnmächtige und ausgelieferte Opfer der Umstände zu sein. Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit belebt den Willen zur Gesundung und den Glauben an Heilung, sie befeuert unsere Selbstheilungskräfte.

Die therapeutische Gemeinschaft aus Betroffenen und Mitarbeitern der Klinik vermag sich gegenseitig und miteinander zu tragen. Es entstehen Verbundenheit und Freundschaften, die eine solche Substanz haben, dass sich die Menschen bis an die Grenze des Lebens und sogar darüber hinaus zu begleiten vermögen.

In der Zusammenarbeit des interdisziplinären therapeutischen Teams, das den Betroffenen mit einer dem Menschen gemäßen Medizin umgibt, wird der Mensch in seiner »Vielschichtigkeit« auf seiner biochemischen, vitalen, emotionalen und personalen Ebene wahrgenommen und in individuellen Entwicklungsprozessen unterstützt. Der Heilerwille im Team vermag trotz einer limitierten medizinischen Perspektive, trotz der aus rein medizinischer Sicht vorgestellten »Unheilbarkeit« den Raum für wünschenswerte Entwicklung offenzuhalten. Der Glaube an Heilung und der Wille zur Gesundung können sich im Betroffenen und seinem Umfeld ebenso entfalten wie die Integration von Sterben und Tod in das Leben. Eine ausschließliche Fixierung auf Heilung kann dank des Wissens der Unendlichkeit des Lebens, das heißt der Unsterblichkeit von Seele und Geist, in eine Schicksalsbejahung, in ein Vertrauen in die Führung der geistigen Welt gewandelt werden.

In einer Medizin mit Körper-Seele-Geist-Verständnis lebt die Würde des Menschen und eine Orientierung am Individuum und nicht nur am objektiven Befund. In einer menschengemäßen »Subjekt-Medizin« leben diejenigen Aspekte, die uns heute durch die Epigenetikforschung (die Veränderungen jenseits genetischer Festlegungen analysiert), die Psychoneuroimmunologie (die Wechselwirkungen von Psyche und Immunsystem untersucht) und die Salutogeneseforschung (welche die Entstehung von Gesundheit zum Inhalt hat) wissenschaftlich nachweislich manifest geworden sind. In ihrem Alltag hat sie durch ihr interdisziplinäres Konzept diese Erkenntnisse verlebendigt. Sie erkennt den faktischen, objektiven Augenblicksbefund an, ohne diesen temporär festzuschreiben. Sie sieht den Befund ebenso wie den individuellen Menschen in einer ständigen Entwicklung stehend.

Die Herausforderung Krankheit benötigt neben der bestmöglichen medizinischen Versorgung Entwicklungsräume für Körper, Seele und Geist. Hier erleben die Menschen die bedingungslose Annahme, die Wertschätzung ihrer Potenziale und nicht nur die Fixierung auf das Defizit. Gelingt ihnen der Blickwinkelwechsel von der alleinigen Herrschaft des Verstandes hin zur »Öffnung« ihres eigenen Herzens zu ihrem tiefsten Wesenskern, ihrer in ihrem Herzen verborgenen Gewissheit, geht das oft mit neuer Kraft und Lebensfreude in der Seele einher. Und sie wagen etwas, sie haben den Mut, das Horaz-Wort »Sapere aude« zu leben, oder wie Friedrich Schiller es in seinen ästhetischen Briefen übersetzt: »Erkühne dich, weise zu sein«. Sie leben ihre Stimmigkeit, ihre Melodie. 

In der therapeutischen Gemeinschaft aus Betroffenen und Begleitern, in diesem Schutz- und Entwicklungsraum kann sich heilsame menschliche Begegnung ereignen. Das Erleben von erstaunlichen, wundersamen Entwicklungen sowie die Erfahrung von Gelassenheit und Vertrauen von Mitpatienten in die Weiterentwicklung des Lebens, selbst am Ende des Lebenslaufes, verringern die Angst und fördern Mut zum Sein und Vertrauen in das Werden.

Josef Ulrich, Juli 2018

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