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Entzugserscheinungen und Chronifizierung von Depressionen

Antidepressiva seien wichtige und möglicherweise lebensrettende Medikamente, schreibt der italienische Psychiater Giovanni Fava gemeinsam mit Kollegen, sofern sie tatsächlich angezeigt seien. Doch auch in diesem Fall sei mit Risiken zu rechnen unter anderem mit nachlassender oder verschwindender pharmakologischer Wirkung, mit einer Veränderung der Depression in Richtung bipolare, das heisst manisch-depressive Störung, mit Entzugserscheinungen und Toleranzbildung (Fava & Davidson, 1996; Fava, 2014). Solche Probleme könnten in Zulassungsstudien nicht erkannt werden. Pharmakologische Interventionen könnten die Depression verfestigen, sie verlangsamt abklingen lassen, die Rückfallgefahr vergrössern und behandlungsresistent machen:

 

„Führen wir die Behandlung länger als 6-9 Monate fort, können wir Prozesse auslösen, die den anfänglichen akuten Wirkungen von Antidepressiva entgegenwirken (Verlust klinischer Wirkungen). Möglicherweise lösen wir damit einen schlechteren und behandlungsresistenten Krankheitsverlauf aus, was zu Resistenz oder beschleunigten Rückfällen führen kann. Wenn die Medikamentöse Behandlung endet, können diese Prozesse unbehindert vonstattengehen und Entzugserscheinungen und eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber Rückfällen mit sich bringen. Solche Prozesse sind nicht unbedingt reversibel. Je mehr wir Antidepressiva wechseln oder verstärkt einsetzen, desto wahrscheinlicher kommt es zu einer entgegengesetzten Toleranz“ (Fava & Offidani, 2011, S.1600)

 

Seine Ausführungen stützt Fava auf verschiedene Studien, wonach sich unter SRI die Symptome verstärken können (Fux et al.,1993), Rückfälle in hoher Zahl auftreten (Baldessarini et al., 2002; McGrath et al., 2006; Bockting et al., 2008; Williams et al., 2009), die Wirkung der SRI nachlässt (Fava et al., 1995), Patienten nach anhaltender SRI-Einnahme ein höheres Risiko einer zweiten Behandlung aufweisen als Patienten, die sie frühzeitig beenden (Gardarsdottir et al., 2009), nach Rückfällen Dosiserhöhungen notwendig werden (Maina et al., 2001), Toleranzbildung Dosissteigerung nötig macht und trotzdem Rückfälle auftreten (Schmidt et al., 2002). Aber auch nach wiederholter SRI-Gabe mit Unterbrechungen trete eine Tachyphylaxie ein: eine zunehmende Wirkungsabschwächung (Fava et al., 2002; Solomon et al., 2005; Rothschild, 2008; Amsterdam et al., 2009; Amsterdam & Shults, 2009; Williams et al., 2009). Schliesslich könne ein chronischer Verstimmungszustand („tardive Dysphorie“) eintreten (El-Mallakh et al., 2011).

 

Warnende Stimmen, wonach die fortgesetzte Einnahme von Antidepressiva durch Rezeptorenveränderungen ihren anfänglich möglicherweise positiven akuten Wirkungen entgegenwirkt (Young & Goudie, 1995), sind nicht neu. Schon Mitte der 1960er Jahre äusserten Ärzte den Verdacht, dass Antidepressiva zur Chronifizierung von Depressionen führen können.[…]

 

Auf die Dauer komme es zu einer verminderten Serotoninwirkung, schrieb Marc Rufer (1995, S.144) und machte dafür die bleibende Down-Regulation der Serotonin- und Noradrenalin-Rezeptoren als Reaktion auf den durch Antidepressiva künstlich erhöhten Gehalt an Botenstoffen in den Nervenverbindungen verantwortlich. Andere Autoren, beispielsweise Paul Andrews von der Abteilung für Psychologie, Neuro- und Verhaltenswissenschaften an der McMaster-Universität von Hamilton in Ontario, weisen auf die natürliche Selbstregulation des Serotonin-Haushalts oder andere Botenstoffe im Gehirn hin. Diese könne von den Antidepressiva beeinträchtigt werden, was dazu führe, dass das Gehirn überreagiere, wenn die Antidepressiva abgesetzt werden. Einzig um die Entzugsprobleme zu bewältigen, müssten die Betroffenen dann weiterhin Antidepressiva einnehmen (McMaster University, 2011). Entzugsprobleme und gesteigerte Anfälligkeit für neue Depressionen würden letztlich zur körperlichen Abhängigkeit führen.

 

Entzugserscheinungen können Monate oder Jahre anhalten und auch durch langsames Absetzen nicht grundsätzlich verhindert werden (Fava et al., 2007; Belaise et al., 2012, 2014). Entwickelt sich ein „Absetz-Syndrom bei Antidepressiva“ so eine neue Diagnose im internationalen Diagnosehandbuch „DSM-5“-, könne dies nur durch die Weitereinnahme der Antidepressiva unterdrückt werden (APA, 2015, S.982f.) […] Auch wenn Main-Streampsychiater den Begriff „Antidepressiva-Abhängigkeitssyndrom“ nicht verwenden mögen, gestehen sie mittlerweile ein, dass man bei allen Arten von Antidepressiva schon nach kurzer Einnahmedauer mit spezifischen Absetzproblemen rechnen muss. […] Informationen, wie man solchen Entzugsproblemen anders als durch weitere Einnahme von Antidepressiva beikommen könnte, liefern Mainstream-Psychiater nicht.

 

Ein Team um Giovanni Andrea Fava von der Psychiatrischen Abteilung der State of University of New York in Buffalo kam nach einer Meta-Analyse publizierter Vergleichsstudien und anderer Forschungsberichte zu Problemen beim Absetzen von SRI zum Ergebnis, statt verharmlosend von Absetzsymptomen müsse man korrekterweise von Entzugssymptomen sprechen: „Die Symptome treten in der Regel innerhalb von wenigen Tagen nach Absetzen der Medikamente auf. Sie halten auch beim Ausschleichen ein paar Wochen an. Allerdings sind viele Varianten möglich, einschliesslich verzögertem Einsetzen oder langem Fortbestehen der Störungen. Die Symptome können leicht als ein Zeichen eines drohenden Rückfalls fehlinterpretiert werden. Kliniker sollten SSRI der Lister der Medikamente hinzufügen, die beim Absetzen Entzugserscheinungen verursachen können – zusammen mit Benzodiazepinen, Barbituraten und anderen psychotropen Medikamenten. Der aktuell verwendete Begriff „Absetz-Syndrom“ verniedlicht die durch SSRI verursachten Schadenspotenziale und sollte durch „Entzugs-Syndrom“ ersetzt werden“ (2015, S.72) […]

 

Die Chronifizierung von Depressionen als Ergebnis Antidepressiva-bedingter Rezeptorenveränderungen stellt sich schleichend ein. Vorboten sind bleibende oder sich verstärkende Depressionen unter Einfluss von Antidepressiva sowie mehr oder weniger rasch auftretende Entzugssyndrome.

 

 

Aus dem Buch: „Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika“ Risiken, Placebo-Effekte, Niedrigdosierungen und Alternativen, Peter Lehmann, Volkmar Aderhold, Marc Rufer, Josef Zehentbauer, 2017, P.Lehmann Publishing

 

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