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Wie psychiatrische Diagnosen entstehen

In der modernen Psychiatrie der letzten Jahre wurden sowohl die mentalen als auch die psychosozialen Faktoren psychischer Störungen zunehmend abgewertet und durch eine radikal auf Biologie reduzierte Sichtweise ersetzt. Der Psychologe Hennric Jokeit und die Journalistin Ewa Hess haben es in ihrem Essay „Neurokapitalismus“ auf den Punkt gebracht: „Depressionen und Angst werden jetzt im synaptischen Spalt zwischen Neuronen verortet und genau dort behandelt“. Auch wenn der Ursprung einer psychischen Malaise im Sozialen liegt – trostlose Kindheit, verkorkste Beziehungen, Mobbing am Arbeitsplatz – therapiert wird vor allem die Biologie. Früher waren Familie oder Umwelt an allem Schuld. Heute ist es das Gehirn.

 

Zugegebenermassen ist es einfacher und vor allem praktikabler, Medikamente zu verabreichen, als eine unbefriedigende Arbeitssituation aufzulösen oder einen zermürbenden Scheidungskrieg zu befrieden. […]

 

Ein paar Jahre nach Erscheinen des DSM-III (1980) hat Yale-Psychiater Mark Gold die neue Sichtweise in seinem Buch „The Good News About Depression“ in einem griffigen Ausdruck zusammengefasst: „Wir nennen unsere Wissenschaft „Biopsychiatrie“ die neue Medizin des Geistes.“ Die Psychiatrie hat sich den weissen Kittel der Mediziner angezogen und wurde von nun an auch in der Öffentlichkeit als wissenschaftliche Disziplin wahrgenommen. […]

 

Aber schon damals wurde über die Willkürlichkeit von Krankheitsdefinitionen und Diagnosekriterien heftig gestritten. So hielt Theodore Blau, damaliger Präsident der amerikanischen Psychologenvereinigung, das DSM III mehr für ein „politisches Positionspapier der American Psychiatric Association als für ein wissenschaftlich fundiertes Klassifikationssystem“. Wohl nicht ganz zu Unrecht, schliesslich war es mit der Wissenschaftlichkeit wirklich nicht weit her. Über die einzelnen psychiatrischen Krankheiten und ihre Symptome haben die APA-Psychiater nämlich ganz einfach abgestimmt: Heben sie die Hand liebe Kollegen, wenn sie der Meinung sind, das Symptom AB gehört zur Krankheit XY. Schwer vorstellbar, dass bei einer Versammlung von Diabetologen darüber abgestimmt wird, ob man einen neuen Typ von Zuckerkrankheit einführen soll, oder dass Astronomen darüber abstimmen, ob es schwarze Löcher gibt. […]

 

 

Für eine weite Verbreitung des biologischen Konzepts der Psychiatrie sorgte 1984 Nancy Andreasens Bestsellerbuch: „Das zerbrochene Gehirn“. Angepriesen wurde das Buch der amerikanischen Star-Psychiaterin als die „erste umfassende Darstellung der biomedizinischen Revolution in der Diagnose und Behandlung von psychischen Krankheiten.“ „Das zerbrochene Gehirn“ verkündete die neue Marschrichtung der Psychiatrie geradezu programmatisch: „Die wichtigsten psychiatrischen Störungen sind Krankheiten. Sie sollten als medizinische Krankheiten betrachtet werden, genauso wie Diabetes, Herzkrankheiten und Krebs“.
Schon in Andreasens Buch zeigte sich allerdings das Grundproblem, das auch heute, fast 30 Jahre später, nicht gelöst ist. Nämlich, dass die Hirnforschung mit all ihren hoch technisierten Untersuchungsmethoden gar nicht zeigen konnte, ob – und vor allem nicht wo – das Gehirn denn bei psychischen Störungen überhaupt „zerbrochen“ ist. […]

 

Die spezifischen biologischen Charakteristika psychiatrischer Störungen liegen noch immer völlig im Dunkeln.
Bezeichnender Weise gibt es bis auf den heutigen Tag auch kein einziges biologisches Diagnoseverfahren – für keine einzige psychische Störung.[…]

 

Weder mit Gentests, noch mit klinischen-chemischen Untersuchungen, noch mit bildgebenden Verfahren gelingt es, Normalität von Depression, Manie oder Schizophrenie zu unterscheiden. Mit diesen Untersuchungsmethoden können nur hirnorganische Ursachen erkannt werden – beispielsweise ein Hirntumor, der möglicherweise einer Persönlichkeitsveränderung zugrunde liegt. Wie eh und je werden heute psychiatrische Diagnosen durch klinische Beobachtung, Gespräche mit Patienten und Angehörigen und dem Ausfüllen von Fragebögen gestellt.

 

Felix Hasler, Neuromythologie, transcript

 

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